Die Zeit des Scheiterns

Hallo Julia!

Verdammt… es ist der 8. April und erst jetzt schaffe ich es, dir zu antworten. In anderen Worten: Mir geht es ähnlich, wie dir!

Unglaublich, wie schnell ich diese Tage mit neuen Aufgaben und Tätigkeiten gefüllt habe. Eigentlich hätte ich in den vergangenen Wochen viele Seminare geleitet. Aber das weißt du ja… Ein paar davon hätten wir zusammen geleitet – eine Heldenreise und unsere beiden Scheiter-Workshops in München. Was für eine Ironie, dass deren Durchführung jetzt scheitert. Naja, damit sind wir in guter Gesellschaft. Tatsächlich ist das Scheitern gerade allgegenwärtig. Wie du schreibst: Die Zeit des Scheiterns ist gekommen.

Darüber sollte ich jetzt kluge Dinge schreiben. Welch eine besondere Zeit, welch eine Wegkreuzung! Darüber muss ich schreiben! Alle sagen oder schreiben jetzt kluge Sachen über die aktuelle Lage. Und ich? Ich lasse den Zug an mir vorbeifahren. Es fällt mir schwer, mich hinzusetzen, zur Ruhe zu kommen, meine Gedanken zu sortieren und aufzuschreiben. Zur Zeit sind es wenige Momente, in denen ich wirklich die Muße dazu habe. Muße habe ich hingegen zum Aufräumen, Ausmisten, Dinge Reparieren, Zeit mit meinem Sohn Verbringen, unsere Schafe Versorgen, den Ofen Einheizen, Spazierengehen, … Es sind die einfachen, praktische Dinge, die mir gerade leicht fallen, die mir die meiste Freude bereiten.

Auch mir fällt es oft schwer, mir diese Einfachheit, diese Ruhe zu erlauben. Schnell tauchen innere Glaubenssätze auf, dass ich diese Zeit besser nutzen müsste. Obwohl ich merke, wie gut mir die Ruhe tut. Ja, Ruhe – das war es, was ich zu Beginn der Ausgangsbeschränkungen so genossen habe. Auch in Gesprächen mit anderen Leuten tauchen immer wieder diese Worte auf… die Ruhe, die Entschleunigung. Vielleicht ist es genau das, was gerade dran ist. Runter vom Gas, Innehalten. Vielleicht ist es auch gar nicht nötig, hier noch mehr Worte zu schreiben. Vielleicht darf ich mir jetzt genau das erlauben: Innehalten.

Herzlich,
Tobi

Am 26.03.20 um 22:29 schrieb Julia Gieray:

Hey Tobi,

ich sitze allein zuhause und frage mich, was wohl in den vielen anderen Menschen vorgeht. Menschen, die auch zuhause sitzen und sich allein von Tag zu Tag damit abkämpfen, sich selbst eine Struktur zu schaffen, es sich gut zu machen, finanzielle Ausfälle auszugleichen. Menschen, die das Internet nutzen, um Angebote zu schaffen, sich eine Meinung zu bilden, Gruppen beizutreten. Menschen, die ganz viel telefonieren…

Und immer wieder beobachte ich mich dabei, wie ich unter Stress komme: Schon wieder gibt es so viel zu tun! Dann summt mir das Lied von Julia Holofernes durch den Kopf „ich mach heut‘ nichts, was etwas nutzt“. Wie schwer es mir doch fällt, mir dieses Nichts zu erlauben. Mir einfach mal zu erlauben, mit meinen Vorhaben zu scheitern.

Die Zeit des Scheiterns ist gekommen. Momentan funktioniert vieles nicht mehr wie gewünscht. Termine fallen aus, die Grenzen sind mehr oder weniger dicht, Menschen verlieren ihre Arbeit, Krankenhäuser sind überlastet. Nicht einmal das Kaufen einer Rolle Klopapier ist noch erfolgversprechend. Unser System stößt an vielen Stellen an seine Grenzen.

Auch auf der persönlichen Ebene bietet diese Zeit herrliche Ausgangsbedingen zu scheitern: Zum Beispiel damit, die Ruhephase zu nutzen, um zu entspannen – nein eigentlich sollte ich mich ehrenamtlich engagieren. Ich mache keinen Sport, habe zu gar nichts Lust, habe mal wieder nichts geschafft… und selbst das Nichtstun zu genießen, gelingt mir nicht.

Verrückt, denke ich gerade, wie schwierig es ist, einfach nur meiner Lust zu folgen. Im jeweiligen Moment zu schauen, was mich gerade anspricht. Dinge anzufangen, die mich ansprechen und wenn die Muße nachlässt, auch einfach wieder abzubrechen. So schnell ist der innere Kritiker zurück: „Jetzt hast du das angefangen, ohne es zu Ende zu bringen!? Wo führt das hin? Das nützt doch nichts. Dann kannst du es auch gleich ganz lassen.“

Naja, zumindest diese Zeilen habe ich jetzt fertig geschrieben.

Ja, diese Dinge aufzuschreiben, tut gut. Wollen wir einen Text darüber schreiben? Scheitern in der Zeit des Scheiterns?

Alles Liebe,
Julia

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